Die Odyssee der Schmerzpatienten
Warum Schmerzpatienten nicht ausreichend behandelt werden können
Schmerztherapeut Torsten Kupke aus Dresden über lange Wartezeiten, Fehler im System und die unterschätzte Rolle des „inneren Arztes“.
Die Deutsche Schmerzgesellschaft schlägt Alarm: Millionen Menschen mit chronischen Schmerzen würden nicht ausreichend versorgt. Ambulante spezialisierte Schmerzeinrichtungen könnten die wachsende Zahl der Patienten schon jetzt nicht mehr „auffangen“. In den nächsten zehn Jahren scheiden bis zu 60 Prozent der niedergelassenen Schmerztherapeuten altersbedingt aus. Was tun? Die SZ sprach dazu mit Schmerztherapeut Torsten Kupke, der in Dresden das ambulante Zentrum für ganzheitliche Schmerzmedizin leitet.
Herr Kupke, was erleben Sie täglich in Ihrer Praxis?
Zu uns kommen Menschen mit einem sehr hohen Leidensdruck. Sie haben oft schon eine jahrelange erfolglose Odyssee durch unser Gesundheitssystem hinter sich. Denn chronische Schmerzen sind ein sehr komplexes, schwierig zu behandelndes Krankheitsbild. Obwohl wir inzwischen acht Ärzte, sechs Psychotherapeuten und sechs Physiotherapeuten sind, haben wir lange Wartelisten und müssen priorisieren.
Woran liegt das?
Die Strukturen in unserem Gesundheitssystem werden der Komplexität des Krankheitsbildes nicht gerecht. Medizinischer Goldstandard ist eine multimodale Schmerztherapie. Dabei wird interdisziplinär, also fachübergreifend, behandelt. Das ist bisher im Wesentlichen nur in speziellen voll- oder teilstationären Einrichtungen vorgesehen. Deren Kapazität reicht aber nur für etwa zwei Prozent der Patienten. Und wenn sie dann entlassen werden, sind sie oft wieder sich selbst überlassen.
Es gibt doch aber ambulante Schmerzspezialisten.
Ja, wir haben in Sachsen etwa 100 niedergelassene Fachärzte mit einer entsprechenden Zusatzqualifikation. Doch sie müssen Fallzahl-Obergrenzen einhalten und schaffen bestenfalls, ein Drittel der betroffenen Patienten zu behandeln. Absehbar werden es noch weniger, da viele Schmerzspezialisten in den Ruhestand gehen und es an Nachwuchs fehlt – bei steigendem Bedarf.
Warum steigt der Bedarf an Schmerzspezialisten?
Zum einen durch die älter werdende Bevölkerung. Zum anderen aber auch, weil immer mehr Menschen mit unserer komplexer werdenden Welt und den schnellen Veränderungen nicht mehr klarkommen. Denn Schmerzen haben oft nicht nur körperliche, sondern auch psychische und soziale Ursachen. Ich habe Patienten, bei denen schon beim ersten Gespräch klar wird, dass beispielsweise Stress, Arbeitsplatzverlust oder Scheidung hinter ihren Problemen stecken. Die Ungerechtigkeiten des Lebens und Zukunftsängste wirken sich auf die Gesundheit aus. Ich veranschauliche das gern an einem Eisbergmodell. Der Schmerz ist nur das Symptom, welches wir an der Wasseroberfläche sehen. Darunter befindet sich ein Batzen von Chronifizierungsfaktoren. Mit unserer Fünf-Minuten-Gesundheitsökonomie ist es da nicht getan. Denn dort wird oft der einfachste Weg gegangen, der das Problem aber nicht löst.
Welchen einfachen Weg meinen Sie?
81 Prozent der Schmerzpatienten werden mit Medikamenten behandelt. Doch die halten selten, was man sich von ihnen erhofft. So können zum Beispiel Nervenschmerzen lediglich bei einem Drittel der Betroffenen um 30 bis 50 Prozent gelindert werden. Selbst bei stärksten Schmerzmitteln, den sogenannten Opioiden, fällt die Bilanz bei nicht-tumorbedingten Schmerzen nicht besser aus. Demgegenüber stehen oft erhebliche Nebenwirkungen wie Stuhlverstopfung, Verlust der Libido, Schwitzen, Tagesmüdigkeit und andere zentralnervöse Beeinträchtigungen bis hin zu Gangunsicherheit und Abhängigkeitsentwicklung.
Was also ist aus Ihrer Sicht die Lösung für Schmerzpatienten?
Es müssen interdisziplinäre ambulante Strukturen geschaffen werden. Das heißt, dass sich neben Schmerzspezialisten zum Beispiel auch Psycho- und Physiotherapeuten gemeinsam um den Patienten kümmern. Bei schweren Fällen braucht es nicht zuletzt eine Sozialbetreuung. Denn lange anhaltende Schmerzen führen oft auch zu Depression und sozialem Abstieg. Der Erfolg dieses ganzheitlichen Ansatzes ist wissenschaftlich belegt.
Woran scheitert es denn dann?
Die Ursachen sind vielfältig. Es gibt Fehlanreize wie zum Beispiel bei Rückenschmerzen, wo es sich finanziell mehr lohnt, zu operieren.
Bei der geplanten Krankenhausreform ist eine Förderung der spezialisierten Schmerzmedizin mit entsprechenden Qualitätsvorgaben und Vorhaltepauschalen nicht vorgesehen. Die Politik wünscht sich eine Ambulantisierung, investiert jedoch nicht in das ambulante Gesundheitswesen und in die passenden Strukturen. Verschiedene medizinische Fachbereiche und Gesundheitsdienstleister wie in unserem Schmerzzentrum zu verbinden, kostet mehr Geld. Zehn bis zwanzig Prozent unserer Arbeitszeit verwenden wir für den Austausch, für Fallbesprechungen, Weiterbildungen, Management. Solche Team- und Netzwerkstrukturen werden aber nicht bezahlt.
Im Gegenteil, wir bekommen derzeit nur 90 Prozent unsere Arbeitsleistung vergütet. Gesamtgesellschaftlich gesehen wird das am Ende sogarteurer. Denn Patienten, die ewig durchs Gesundheitssystem kreisen, kosten enorm viel Geld. Und es entstehen mehr Chronifizierungen mit entsprechenden Folgekosten. Dass es trotzdem nicht mehr interdisziplinäre Schmerztherapie gibt, liegt nicht zuletzt an den vielen Zusatzbelastungen, mit denen auch andere Praxen kämpfen.
Welche Belastungen sind das?
Die organisatorischen Rahmenbedingungen: Personalnot, steigende Kosten nicht nur für Löhne, die riesige Bürokratie mit ihren zahlreichen Vorschriften und Reglementierungen bis hin zu Regressforderungen. Die Digitalisierung läuft schleppend, die IT funktioniert nur in Ansätzen. Der Aufwand, eine Praxis zuführen, ist viel größer geworden. Das alles ist wenig attraktiv für einen Nachwuchs, der Wert auf die Work-Life-Balance legt.
Gesundheitsminister Karl Lauterbach verspricht mit diversen Reformen Besserung in einigen Bereichen.
Solche Reformen und Veränderungen dauern in der Regel viel zu lange – oft Jahre oder sogar Jahrzehnte. Seit fünf Jahren zum Beispiel gibt es ein nebenwirkungsarmes ultraschallgestütztes Behandlungsverfahren bei Bandscheibenvorfällen. Es würde die Strahlenbelastung durch die bisherige Computertomografie vermeiden. Doch die Aufnahme dieser Innovation als Kassenleistung scheitert an der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Auch für die ambulante interdisziplinäre Schmerztherapie gibt es neue Versorgungsmodelle. Die Umsetzung scheitert an den üblichen Dingen wie fehlender gemeinsamer Wille, Bürokratie und Geldmangel. Wir brauchen mehr Zusammenarbeit aller Akteure im Gesundheitswesen bis hin zu den Krankenkassen. Und wir brauchendringend die Mithilfe des „inneren Arztes“, also des Patienten selbst. Denn für den Umgang mit chronischen Schmerzen gibt es kein Wundermittel und keine schnelle Lösung durch den „äußeren Arzt“.
Was sollte denn der „innere Arzt“ konkret tun?
Der Patient muss seine passive Opferrolle verlassen. Er muss seine Selbstheilungskräfte aktivieren und seine Resilienz stärken – durch einen gesünderen Lebensstil. Das gelingt zum Beispiel, indem er seine Belastungen reduziert und für regelmäßige Erholungszeiten wie den Nachtschlaf oder Urlaub sorgt. Wir Menschen sind Teil der Natur. Deswegen gelten für uns die Naturgesetze. Wenn wir uns daran nicht halten, indem wir zum Beispiel zu viel essen oder uns zu wenig bewegen, werden wir krank. Gleichzeitig sind wir soziale Wesen. Stress in unseren Beziehungen, unseren Familien, im Beruf oder insgesamt gesellschaftlichen Rahmen stört unser seelisches Gleichgewicht und bringt uns aus der Balance. Die Zunahme von psychischen Störungen kann niemals durch die vorhandene Anzahl der Psychotherapeuten bewältigt werden. Wir brauchen hier mehr Verständnis für diese Zusammenhänge und ein gesellschaftliches Umdenken.
Was lange dauert, wie Sie vorhin selbst sagten.
Dabei ist die Formel dafür recht simpel: „3B+E+S“. Die drei „B“ stehen für Bewegung, Berührung, Beziehung, das „E“ für gute Ernährung und das „S“ für das Schöne, welches bejahenswert erscheint. In der multimodalen Schmerztherapie beziehen wir Patienten ein und motivieren sie zur Mitarbeit. Das beginnt beider Aufklärung über Ursachen von Schmerz und reicht bis hin zur Schulung, was sie selbst gegen ihre Schmerzen tun können. Aus meiner Sicht ist das essenziell für den Behandlungserfolg. Das bedeutet aber auch für die Ärzte eine Umstellung. Sie sind nicht mehr der „Gott in Weiß“, welcher Heilung erzeugt, sondern werden zum Fachberater und Coach in Gesundheitsangelegenheiten.
Quelle: Sächsische Zeitung / www.saechsische.de